Verzeihen heißt nicht, zu vergessen was war

Ein Gespräch über Versöhnung mit dem Psychologen und Theologen Martin Odermatt.

Martin Odermatt: 1936–2003, dipl. analytischer Psychologe und lic. theol., war Dozent und Lehranalytiker am C.G. Jung-Institut in Küsnacht und Zürich und hatte eine analytisch-psychotherapeutische Praxis in Zürich.

Manche Menschen können eine Verletzung nicht vergessen, kommen über eine bestimmte Kränkung einfach nicht hinweg. Was steckt hinter diesen „unverzeihlichen“ Geschichten?

Es ist wichtig zu akzeptieren, dass es „unverzeihliche“ Verletzungen gibt. Es gibt Erfahrungen, die den Menschen in seinem Wesenskern treffen und so tiefe Spuren hinterlassen, dass sie nie mehr gelöscht werden können. Sie werden zu Prägungen, die alles spätere Erleben, Fühlen, Denken, alle Hoffnungen und Ängste mitbestimmen. Wenn an solchen verletzenden Ur-Erfahrungen gerührt wird, dann werden auch nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten wieder Gefühle von Schmerz, Trauer und Wut spürbar. Bei Verletzungen, welche die Person-Mitte, ihre Einmaligkeit, ihren Wert betreffen, gibt es kein »Schwamm darüber« oder »Vergessen wir das!«.

Welche Kränkungen verletzen die Würde der Person und sind darum besonders schwierig zu verkraften?

Die Würde der Person wird verletzt, wenn Menschen in ihrer sexuellen oder religiösen Identität in Frage gestellt oder lächerlich gemacht werden. Viele Menschen, deren Selbstwertgefühl vor allem sozial abgestützt ist, erleben sich zutiefst bedroht und verletzt, wenn ihre berufliche Identität angezweifelt wird oder wenn ihre Stellung in der Familie oder ihr Ruf in der Gemeinde, in der Pfarrei oder bei Freunden untergraben wird.

Können Sie konkreter werden?

Die sexuelle Identität kann zum Beispiel durch einen Seitensprung des Partners als verletzt erlebt werden. Eine betroffene Frau fühlt sich zutiefst verunsichert, weil die Fremdbeziehung ihres Partners von ihr als Botschaft verstanden wird, sie genüge nicht als Frau. In ähnlicher Weise kann sich ein Mann in seinem Wesenskern durch die Bemerkung seiner Frau gekränkt erleben, andere Männer würden viel mehr verdienen oder hätten eine höhere Stellung erreicht. Für den betroffenen Mann kann dies heißen: Du bist kein rechter Mann, du hast als Mann versagt. Sich in ihrer Würde und in ihrem Wert verletzt gefühlt hat sich auch die Frau, deren Mann sie bei der Geburt ihres Kindes allein ließ — wegen beruflicher Pflichten, die er noch erledigen wollte. Für die Frau hieß dies, dass das Kind und sie als Mutter für ihn wenig Wert hatten. Und noch nach Jahren blutete diese Wunde.

Die Zeit heilt also keine Wunden?

Es wäre falsch zu sagen, dass die Zeit keine Wunden heilt, aber es wäre ebenso naiv zu glauben, dass die Zeit alle Wunden heilt. Oberflächlichere Verletzungen können im Laufe der Zeit wie von selbst ausheilen, weil andere gute Erfahrungen die Seele füllen und dadurch die frühere Kränkung bedeutungslos wird. Auch Verletzungen des Wesenskerns verlieren mitunter schmerzliche oder störende Kraft dank besonders gelungener Beziehungserfahrungen. Aber solche Heilungen sind als besondere Geschenke des Lebens, als Wunder oder Gnade zu betrachten. Im »Normalfall« werden sie ohne eine gute therapeutische Bearbeitung immer wieder als Belastung spürbar werden.

Mir scheint aber noch etwas wichtig: Erfahrungen, die nach vielen Jahren noch weh tun, sollten nicht nur als Übel verstanden werden. Ein seelischer Schmerz, der hartnäckig wiederkehrt, ist eine Einladung, sogar eine sehr eindrückliche Einladung, die Landschaft der eigenen Lebensgeschichte neu anzuschauen und sie neu zu entdecken. Gerade das seelische Leiden kann zum Wegweiser werden, der nicht nur zu den ursprünglichen Verwundungen zurückführt, sondern auch zu den gesunden Wurzeln, zu den oft vergessenen Reichtümern unserer Lebensgeschichte.

Das tönt so einfach und schön ...

Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber ich weiß auch aus Erfahrung, dass immer wieder Menschen erst über ihre unausgeheilten Verletzungen zu den verborgenen Schätzen ihrer eigenen Persönlichkeit finden. Darf ich ein Beispiel anfügen? In einer angespannten Situation wirft ein Mann seiner Frau vor, sie sei genau wie ihre Mutter. Die angegriffene Frau erlebt diesen Vergleich als unglaublich gemein und kränkend und reagiert mit einem Wutausbruch oder mit totalem Rückzug. Sobald sie sich etwas beruhigt hat, weiß sie, warum sie dieser Vorwurf so tief kränkt. Sie hat ja eine ganze Kindheit lang unter einem bestimmten Verhalten ihrer Mutter gelitten. Und es war ihr immer klar, dass sie so nie werden wollte. Und jetzt wird ihr gesagt, sie sei genau so. Der alte Schmerz der Kindheit ist wieder da. Aber jetzt könnte er zum Anlass werden, einmal sorgfältig zu fragen, wer denn diese Mutter sonst noch war, was für Qualitäten und Begabungen sie vielleicht nie zeigen und nie leben konnte — aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte. Und diese Qualitäten und Begabungen sind als Erbe auch in der Tochter da und möchten jetzt erlöst und ans Licht gebracht werden.

Wäre der kürzeste und wirksamste Weg zum Verzeihen nicht eine ehrlich gemeinte Entschuldigung des Menschen, der einen anderen verletzt hat?

Ja. Ich denke sogar, dass es ungemein hilfreich ist, wenn wir uns auch für Verletzungen entschuldigen, die wir einem Mitmenschen nicht absichtlich zugefügt haben. Aber: Entschuldigungen sollten uns nicht selber erniedrigen und demütigen. Das verletzt unsere eigene Seele, und wir laufen Gefahr, dass wir uns bei Gelegenheit bewusst oder unbewusst rächen. Wenn wir uns entschuldigen, sollten wir dabei immer auch die Würde der eigenen Person respektieren. Wenn wir etwas schlecht gemacht haben, sagen wir, dass wir das und das schlecht gemacht haben, und dass uns das leid tut. Aber nicht: »Ich bin doch der Hinterletzte« oder »Ich habe alles falsch gemacht«. Solche Selbstanklagen helfen nicht weiter.

Manchmal gibt es in einem Streit zwischen den betroffenen »Tätern» und »Opfern« Situationen, in denen keine Gespräche möglich sind. Was kann ein »Opfer« tun, um Kränkungen alleine zu überwinden und sich mit dem Leben zu versöhnen?

Dass in einer bestimmten Situation keine Gespräche möglich sind, ist sogar häufig der Fall — etwa nach Scheidungen oder zwischen Kindern und Eltern. Es gibt nicht selten Situationen, wo es von einer großen, inneren Kraft zeugt, auf Gespräche zu verzichten, die den anderen Menschen nur überfordern oder fast zwangsläufig zu neuen verletzenden Missverständnissen führen müssten. Hier bleibt kein anderer Weg für den verletzten Menschen, als alles zu tun, was ihn in seiner Selbstachtung, in seinem Selbstwerterleben und in seiner Autonomie fördert. Dazu gehört auch das wachsende Bewusstsein, dass der Sinn und das tiefste Glück der menschlichen Existenz nie nur auf Mitmenschen und menschlichen Beziehungen beruhen darf. Wo wir uns außen nicht versöhnen können, ist es umso wichtiger, dass wir uns mit uns selber versöhnen, und das heißt: »Ja« sagen zu unserem eigenen Licht und Schatten.

Versöhnung wäre ja eigentlich ein christlicher Auftrag. Warum fällt sie uns so schwer?

Versöhnung ist oft deswegen so schwer, weil Versöhnung mit Verzeihen gekoppelt und Verzeihen als Vergessen-Können missverstanden wird. Wichtige Lebenserfahrungen werden von der Seele nicht vergessen. Das darf auch so sein. Auch die dazugehörigen Gefühle — Trauer, Wut .und Enttäuschung — dürfen bleiben. Verzeihen heißt nicht, diese Gefühle nicht mehr zu haben. Verzeihen heißt, dem Mitmenschen trotz der schmerzlichen Erinnerung und trotz der schmerzlichen Gefühle keine Vorwürfe mehr zu machen. Verzeihen heißt auch nicht, den fehlbaren Mitmenschen »gnädig wieder aufzunehmen«, sondern offen und wohlwollend zusammen mit diesem Mitmenschen zu fragen, was wir, nicht er — nein wir! —, jetzt tun können, um die Zukunft besser zu gestalten. Verzeihen ist die Bereitschaft, mit schöpferischer Phantasie gemeinsam an die Neugestaltung der Beziehung heranzugehen.

Das Interview führte Viviane Schwizer